Eine Winter-Story in vier Kapiteln

Kapitel 1 – «Der Seufzer»
Dominik Schneider muss tief durchatmen. Sein Chef Matthias Meier hat ihm eben noch einen Fall mehr aufs Pult geknallt. «Lies das, ein Nachbarschaftsstreit!» hat er Dominik zugebellt, bevor er seinen Mantel angezogen, um in die Kronenhalle-Bar zum Apéro zu gehen. Dominik bedauert sich gerade selbst ganz tief, als sein Handy klingelt. «Du, vergisst du bitte nicht, das Auto in der Garage noch durchchecken zu lassen, bevor wir in die Ferien fahren», mahnt eine nicht ganz unbekannte weibliche Stimme am anderen Ende des Telefons. Ja, seine Partnerin Karin war die Chef-Organisatorin im Haushalt. Und wusste nicht nur, was sie selbst zu tun, sondern auch immer sehr gut, was die Pflichten von Dominik waren. Doppel-Seufz!
Eigentlich war Dominik ganz zufrieden. Karin und er hatten eine gut funktionierende Beziehung samt zwei gemeinsamen Kindern, Mia und Liam. Und dass Karin mit 20 Jahren bereits zum ersten Mal Mami geworden war – «ein Glücksschuss mit einer Kurz-Bekanntschaft», wie sie immer allen lachend erzählte – störte Dominik nicht. Mittlerweile ist das Kind eine junge Frau geworden, wohnt mit Kolleginnen in einer WG und kommt nur an den Wochenenden bei ihnen vorbei. Aber warum musste Karin das Mädchen eigentlich Eleonora nennen, wunderte sich Dominik manchmal. Das war ja nicht gerade ein sexy Name fürs 21. Jahrhundert.
Nun denn, reisst sich Dominik zusammen, Garage anrufen, Termin vereinbaren. Ach, da war doch was? Dominik kramt in seinem Gedächtnis rum. Was hatte ihm der Servicemann das letzte Mal gesagt? Ja, genau: Servicetermine kannst du via diese neue App buchen. Nichts mehr mit Warteschlange und Dudelmusik am Telefon. Dominik zückt sein Handy, durchsucht seine Apps – nein, diese ist es nicht – bis er die violetten Strahlen der autoSense-App findet. Drücken, wischen, buchen. Erledigt, seufzt er wiederum, diesmal erleichtert. Und greift sich das Dossier, das er vom Chef als Abendlektüre erhalten hat: Einer will bauen, der andere wehrt sich. Zuerst tönt alles ganz normal. Bis er auf die Passage stösst, dass der Baugegner versuchte, mit gefälschten Bauplänen den Bauherrn vor Gericht anzuschwärzen. Jetzt wird’s interessant, denkt sich Dominik, aber die Fortsetzung spare ich mir als Bettlektüre auf. Er schnappt sich seine Jacke, packt den Fall in den ledernen Rucksack, der ihm Karin vergangene Weihnachten geschenkt hat, und verlässt die Anwaltskanzlei. In der Tiefgarage setzt er sich in seine Familienkutsche, einen Skoda Superb, und macht sich auf den Heimweg.
«Tüt, tüt» meldet sich der Wagen. Die Tankanzeige leuchtet rot. Mist, denkt Dominik, ich wollte doch schon am Morgen tanken! Jetzt gibt es aber keine Ausreden mehr. Zum Glück kommt er an seiner Heim-Tankstelle vorbei. Dort kann er tanken und neuerdings auch mit dieser neuen App zahlen. Was ihm durchaus entgegenkommt: Es regnet, nein, es schneit fast. Die Tropfen klatschen, vermischt mit schweren Schneeflocken auf die Windschutzscheibe. Zapfhahn rein, warten, Zapfhahn raus, App zücken, bestätigen, fertig. «Cool», rühmt Dominik den technischen Fortschritt. Und schaut um sich, ob jemand gehört hat, wie er halblaut mit sich spricht. Niemand da, ausser ihm an diesem Hudelwetter-Abend. Aber jetzt ab nach Hause!

«Papa!» läuft ihm Mia entgegen. Die Siebenjährige geht in die erste Klasse und ist laut Lehrerin «ein «aufgewecktes Kind». Liam stolpert hintendrein. Der Fünfjährige ist nicht ganz so schnell wie seine Schwester. Dafür hat er ein breites Lachen, das ihm die Herzen zufliegen lässt. Karin ist früher nach Hause gekommen und hat die Kinder vom «Pfiffikus» abgeholt, wo sie nach Schule und Kindergarten noch Hausaufgaben machen oder spielen können. Sie gibt Dominik einen flüchtigen Kuss und fragt, ob er das Auto in der Garage angemeldet hat. «Ja», kann er pflichtbewusst melden. «Und getankt ist auch schon, wir können am Wochenende problemlos in die Winterferien fahren.» «Juhui, Schnee!», jubeln die Kinder. Karin sieht weniger begeistert aus. Sie steckt schon mitten in der Packerei – eine Plackerei. Und ist schon wieder am Organisieren: «Wir holen Eli» – Eleonora hat sich als nicht sehr alltagstauglicher Namen erwiesen – «am Samstag um 10 Uhr bei ihr ab.» «Okay», sagt Dominik. Auch er freut sich auf eine Woche im Schnee. Kein Chef, keine Dossiers, keine Pflichten. Nur jungfräuliches Weiss vor den Skispitzen. «Herrlich», denkt sich Dominik – und seufzt wonnig. Er ahnt nicht, dass dieser Schnee ihm noch einige Abenteuer bescheren wird…